VON ULRICH AMLING
Da es gegenwärtig kein österreichisches Staatsoberhaupt gibt, kann auch die ihm gebührende Militärmusik nicht zur Eröffnung der Salzburger Festspiele aufspielen. Stattdessen übernehmen örtliche Trachtenmusik- und Schützenverbände die Aufgabe mit feschem Marschtakt und echtem Kanonendonner. Eine Staatskrise, aufgeführt als Provinzposse. In seiner Festrede mit dem Titel „Kunst in bewegten Zeiten“ zitiert der Philosoph Konrad Paul Liessmann das Flehen Hölderlins an die Parzen als Beistand und Trost für die Festspielgemeinde herbei: „Nur einen Sommer gönnt, Ihr Gewaltigen!“ Passend dazu trägt der offizielle Weißwein dieses Festivaljahrgangs, ein Grüner Veltliner aus der Wachau, ein Beckett-Etikett: „Endspiel“. Das wird Dieter Dorn, 80, noch inszenieren diesen Sommer.
Offiziell
eröffnet die weltweit größte und prächtigste Klassiksommerbühne mit einer
Opernuraufführung, bei der alles Flehen unerhört bleibt. Der britische
Komponist Thomas Adès, Jahrgang 1971, hat nach dem Drehbuch zu Luis Buñuels surrealistischem
Meisterwerk „Der Würgeengel“ ein Musiktheater gefügt. Die Inszenierung von
Thomas Cairns, von dem auch das Libretto stammt, folgt der Handlung des Films
in erstaunlich zutraulicher Weise, reduziert nur etwas die Anzahl der plötzlich
Eingeschlossenen im Hause de Nobile. Vieles drängt sich da geradezu einer
Vertonung auf: Man kommt zum Dinner im Abendkleid und Smoking nach einer
Vorstellung von „Lucia di Lammermoor“ zusammen, die Diva ist anwesend, ebenso
der Maestro, dazu noch eine gefeierte Pianistin. Man hört ihr im Salon spielend
zu, der Doktor, der Oberst, die Herzogin, ein junges Paar – und bittet die Diva
vergeblich um noch eine Gabe ihrer Sangeskünste.
Würgeengel? Das klingt
nach Vampirgefahr.
Doch der Abend verläuft
anders als geplant. Alle Bediensteten haben sich nach nicht näher zu
beschreibenden Vorahnungen aus dem Staub gemacht, einzig der Diener Julio
bleibt bei seiner Herrschaft. Gehen die sich verstärkenden Seltsamkeiten auf
das Konto der exzentrischen Gastgeberin, die die Nachtgesellschaft mit
fliegendem Malteser Ragout, lebenden Lämmern und einem dressierten Bären
überraschen wollte? Oder schreitet der „Würgeengel“ langsam und unerbittlich
zur Tat? Der deutsche Filmtitel klingt nach unmittelbarer Vampirgefahr und
wurde deshalb auch nicht zum Namen der Oper. Dem Original folgend heißt sie
„The Exterminating Angel“, was man mit Engel der Auslöschung übersetzen könnte.
Denn tatsächlich erlischt etwas im Salon, den nun niemand mehr verlassen kann.
Mit jeder weiteren Minute dieser unerklärlichen Gefangenschaft reißen Nerven,
fallen Masken, sinkt der Glaube, stinkt es zum Himmel.
Buñuel hat für all das
bewusst keine Musik eingesetzt, er hat ihre Abwesenheit komponiert, in den
Pausen, in der Stille. Thomas Adès, der seine Oper selbst am Pult des
Radio-Symphonieorchesters Wien dirigiert, geht da einen radikal anderen Weg.
Bei ihm schwillt alles zu prallem Klangkamm, der mit großer Lust auch geklaut
sein kann: Walzerschwadronen, die Strauß und Ravel verschlungen haben, sind
gleich zur Stelle, wenn es einmal auf die Sinnlichkeit kommt im Salon. Man kann
sich gar nicht daran erinnern, dass je ein Komponist ähnlich berauscht auf den
tiefen Tönen seines Orchesters herumgeorgelt hat. Das Rumoren aus dem Graben
des Hauses für Mozart, das Schmatzen und Schmauchen, die endlosen
Trommelsalven, lassen den Boden unter den Akteuren vibrieren.
Das Unerklärliche bekommt eine Stimme
Selbst das Unerklärliche bekommt bei Adès eine
Stimme: Der Engel der Auslöschung verrät seine rätselhafte Gegenwart durch die
schwellenden Klänge der Ondes Martenot. Dieses frühe elektronische Instrument
jubiliert durch Olivier Messiaens bunte Liebesrauschsymphonie
„Turangalila“ oder schwebt durch die Filmwüstenweiten von „Lawrence von
Arabien“. In Salzburg klingt der Einsatz der musikalischen Wellen wie aus einem
in den fünfziger Jahren von Ed Wood zusammengeklebten B-Movie über vergebliche
extraterrestrische Kontaktaufnahme.
Für das Grauen einen Klang zu finden, der im Zuhörer wirklich etwas
anstoßen könnte, an jenes Vakuum zu rühren, das tatsächlich der Horror ist,
damit hat sich der Komponist nicht weiter aufgehalten. Warum
mühsam erschüttern, wenn wohliger Schauer doch so viel einfacher geht. Und
sauwohl fühlt sich Adès in seiner Musikwelt, die sich vom Salongeplänkel
ungehindert schrill und hysterisch hochkatapultiert. Bestens vertraut mit
Kolportage und gesellschaftlicher Bigotterie ist der Komponist, seit er mit
seinem Erstling „Powder Her Face“ nach dem Leben der Herzogin von Argyll eine
Fellatio-Szene auf die Opernbühne stellte. Bei „The Exterminating Angel“ aber
bleibt alles unerfüllt, das Ausmaß der Hysterie schießt damit noch weit höher.
Die Töne etwa, die Koloratursopranistin Audrey Luna als Diva ansteuern muss,
liegen jenseits dessen, wo Stimme noch etwas mitteilen kann – jenseits des
Außer-sich-seins. Auf der männlichen Seite übernimmt Countertenor Iestyn Davies
das kaum weniger schrille Echo.
Stille könnte eine Antwort
sein
Dass die
Besetzung dennoch reizvolle Momente bietet, liegt an den Rollen für gereifte
Bühnentiere, die hier luxuriös von Anne Sofie von Otter als
labiler Patientin, John Tomlinson als ihrem zunehmend verzweifelten Arzt und
Thomas Allen als verstocktem Maestro verkörpert werden. Allein das Wiedersehen
mit ihnen löst Erinnerungen aus, an vergangene Rollen, nicht mehr zu haltende
Versprechen und tausend Bühnentode. Es sollte mehr Opern für Stimmen wie diese
geben, lebensvoll, der Perfektion enthoben, offen für den Ausdruck, von dem,
was noch bleibt. Vielleicht gelingt es ja György Kurtág, seinen Salzburger
Kompositionsauftrag für – ja, genau – Becketts „Endspiel“ fertigzustellen. Seit
2006 arbeitet der inzwischen 90-jährige Komponist daran. Ein Minimalist, der
seine Zeit braucht. Auch Stille könnte seine Antwort sein.
Nach der Eröffnung mit dem
kreischenden Engel kann man sie jedenfalls brauchen, die Flasche „Endspiel“.
Das Festspielleben will weitergehen: Der scheidende Intendant Sven-Eric
Bechtolf zeigt seine gezausten Mozart-Inszenierungen und spielt sich in
Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ den Frust von der Seele. Der
kommende künstlerische Kopf Markus Hinterhäuser will sein Programm bis November
geheim halten. Gegen schwatzhafte Maestri aber ist er machtlos. So verriet
Riccardo Muti bereits, 2017 Verdis „Aida“ in Salzburg zu dirigieren, mit Anna
Netrebko in der Titelrolle.
Weitere
Vorstellungen am 1., 5. und 8. August, Infos: www.salzburgfestival.at
http://www.tagesspiegel.de/kultur/salzburger-festspiele-the-exterminating-angel-schrei-zum-himmel/13948058.html
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